Bernt Pölling-Vocke - berntpv@gmx.de

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Tatort Combi - Ammerländer Heerstraße Oldenburg - 22.03.2012

Er ist ungefähr so groß wie ich, falls er nicht bereits gestorben ist. Das sollte ich zwar, von prominenten Ausnahmen wie Baschar al-Assad einmal abgesehen, niemanden wünschen, aber manchmal, impulsiv aus dem Moment heraus, wäre der Verlust auch zu verschmerzen.

Vielleicht ist er ein klein wenig kleiner.Trug eine khakifarbene Hose, einen braun-roten Pullover mit Längsstreifen. Das Zeug war stimmig, aber distinktiv „lower class“. Für schickere Klamotten sollte es jetzt reichen, wenn auch nur einmalig.

Auf der Waage dürfte er ungefähr die meinen Ziffern erblicken – somit also Werte in jenem Bereich, in dem der BMI in Ordnung scheint, erste Mittmenschen sich jedoch bereits Sorgen machen, dass man bald unter Türen hindurchkrabbeln kann. Wenn da der Kopf nicht wäre...

…das Duell der Haare auf eben diesem geht an mich, auch wenn sich meine Haare bereits zu lichten beginnen. Die blondbraunen Haare, die er noch hatte, waren ziemlich kurz rasiert. Irgendeine Art von Bart war auch im Spiel, aber eher der Stil „ein bisschen überall“. Im Nacken hatte er einen für die Jahreszeit bereits ausgeprägten Sonnenbrand – mein erster Gedanke, als er sich hinter mir in die Schlange an der Kasse Combis reihte, war, dass er vielleicht auf dem Bau arbeitete. Statur, Hautfarbe und Klamotten würden passen. Bank oder Versicherung oder etwas ähnliches? Eher weniger.

Es war etwa 11 Uhr morgens. Sonnig. Warm. 16 Grad. Beinahe windstill. Perfekt. Die Konjunktur brummt. Auf dem Bau ist stets zu tun. Man verwerfe die Theorie vom fleißigen Steineschichter oder Gerüstmalocher. Außerdem war auch nur der hintere Nacken verbrannt. Draußen eingepennt wäre daher Theorie II. 

Eigentlich wollte ich gar nicht bei Combi an der Ammerländer Heerstraße an der Kasse stehen. Eigentlich hätte ich im Unterricht stehen müssen – „Media madness“ in der zwölften Klasse. Eigentlich wollte ich auch an einem sonnigen Freitagvormittag nicht zur Apotheke fahren um Transpulmin Balsam zu kaufen, in der Hoffnung, durch etwas Inhaliererei meine Stimme wieder ins Leben zurückzuholen und nicht vollends krank in die Ferien zu starten. Eigentlich gab es außer mir auch niemanden, der bei diesem Wetter mit Mütze und Schal vor die Tür ging, aber seit Tagen fiel es mir etwas schwer, Temperaturen richtig einzuschätzen.

Das Fieberthermomenter schätzte mich seit Tagen konstant um die 37.5-38 Grad. Kein echtes Fieber, aber auch nicht normal. Montag fing die seltsame Schwitzerei an, Dienstag wurde ich im Unterricht wesentlich ruhiger und war heilfroh, 8 Stunden überstehen zu können, Mittwoch, nach etwa 12 Stunden wenig erholsamen Schlaf, hatte ich nur 2 Stunden und dachte, dass es schon gehen würde, bis ich total schummrig im Kopf und angeschlagen im Hals glücklich war, diese 90 Minuten abgerissen zu haben. Reden musste ich gottlob kaum, aber noch lebte die Hoffnung, mit einem Streifschuss davon zu kommen. Donnerstag kam der Sommer und die Stimme ging vollends. Der DAX brach um kurz nach neun kurz ein, ich ging steil vor die Hunde. Die Lymphknoten dick, die Stimme im Acker, die Husterei, bei der ich als Nachbar mein Haus am liebsten fünf Meter verrücken würde. Es gibt Schlimmeres im Leben als eine Frühjahreserkältung, aber wenn es einen erwischt hat, sieht man es anders.  

Er, so war am Freitagmorgen bei Combi an der Kasse klar, konnte wohl kaum den sonnigen Donnerstag, den erst zweiten oder dritten richtig sonnig-warmen Tag es Jahres, im Bett verbracht haben. Der Nacken, die Röte – dafür musste man draußen gewesen sein.

Zuerst stand er hinter mir an der Kasse. Dann vor mir, da ich noch eine Packung Zahnpasta holen ging und mich innerlich über die Schlange an der Kasse aufregte. Zuerst nahm ich irgendein Markenprodukt für 1.79€, tauschte es dann aber mit einer flinken Handbewegung gegen die 79-Cent-Variante einen halben Meter tiefer. Wenn man müde und angeschlagen ist, nervt jede Bewegung, aber an der Kasse waren ja noch ein paar Homo Sapiens vor mir. Und das bei all der Markenvielfalt letztlich preislich weniger nach Packungsinhalt sondern eher nach Regalfläche, insbesondere in der Vertikalen, differenzert wird, sollte mittlerweile auch jeder verstanden haben, zumindest jeder, den auch Wörter wie vertikal oder Differenzierung nicht an den Abgrund der semantischen Verzweifelung treiben. Für all die anderen gibt es dann die bessere Zahnpasta für 1.79€. 

Freitags um elf – da ist man entweder arbeiten, krank im Bett oder bei diesem Wetter draußen, um sich den ersten Sonnenbrand des Jahres, beispielsweise im Nacken, zu holen. Aber bei Combi? An der Kasse? Wenn dies nicht glechzeitig der eigene Arbeitsplatz ist?

Mit meiner günstigen Zahnpasta stand ich dann wieder vor ihm. Er hatte sich – leicht genervt von der Schlange? – an das Laufband gelehnt. Instinktiv erschien er mir ausgesprochen unsympathisch. Mimik, Gestik - nicht mein Fall. Instinktiv schien mir, als würde es ihn latent nerven, dass dieser ungefähr gleichgroße Typ mit etwas mehr Haaren und einer viel zu dicken Jacke erst seine Einkäufe aufs Laufband bugsierte und dann noch etwas nachholen ging, dann, als der Platz auf dem Laufband bereits ergattert war. Die Poolliegenmentalität so mancher Sonnenhungriger in südländischen Gefilden nun auch schon am Laufband bei Combi? Wer weiß.

Manche Menschen mag man auf den ersten Blick, manche nicht. Manchmal täuscht man sich. Meistens nicht. Manchmal liegt das daran, dass man Menschen keine zweite Chance gibt. Meistens nicht. Meistens achte ich auch flüchtig darauf, was andere einkaufen. Nicht, weil es mich wirklich interessiert, sondern eher, weil es sonst nicht viel zu tun gibt. An der Kasse. In der Schlange. Bei Combi. Bei Netto. Überall dort, wo man in Deutschland zumeist weder freundlich bedient noch als Kunde wirklich geschätzt wird. Wie denn auch, wenn die Angestellten 60 Stunden arbeiten und irgendwelche armen Hampelmänner mit Werkvertrag für 2,50€ die Stunde die Regale einräumen müssen?

Ganz uninteressant ist es aber auch nicht. Dicke kaufen anderes ein als Dünne. Jugendliche anders als Erwachsene. Wer abends um halb sieben eine Tiefkühlpizza und Schokoflakes kauft, wohnt alleine. Frauen kaufen anders als Männer, die zwar historisch auf die Jagd gingen, die modernere Variante, die dann doch eher dem geruhsamen Beerensammeln gleicht, dann aber der Frau überlassen. Das Wiesenhof-Antibiotika-Hähnchen ist schon erlegt, die Nummer mit dem Mammut war noch Arbeit, die nach Testosteronschüben verlangte. Natürlich weiß man wer was kauft, aber wenn es sonst nichts zu tun gibt, ist es ungleich interessanter, als das Gitter vor den ekelhaften Glimmstängeln anzustieren.

Die Frau vor mir hatte dieselben Corny-Riegel gekauft, die ich auch gekauft hatte. Als ich sie im Gang aus dem Regal nahm, hatte dies auch ein anderer Konsument gerade getan. Es gibt mindestens ein Dutzend Sorten Corny-Riegel und insgesamt mindestens hundert verschiedene Riegel überhaupt. Das nennt man Fortschritt. Von Corny gibt es auch die neue Nussvariante in der pseudo-elleganten schwarzen Pappverpackung, wobei das Zeug laut Aufdruck zu 90% aus Nüssen und 10% aus Schokolade besteht. 550 Kalorien auf 100g. Teufelszeug. Warum ich es in der Hand hatte? Weil Marketing eben doch funktioniert, aber nur dann, wenn die Nährwerte nicht so katastrophal sind oder die Kunden diese einfach ignorieren. Das sind dann wieder, maßlos pauschalisierend, die Dicken, die eben anders als die Dünnen kaufen. 

Alle drei –der Mann, die Frau an der Kasse vor mir, ich, hatten die grünlichen Corney „free“-Riegel gekauft; rund 200 Kalorien auf 100g ärmer als die Nussvariante. Gesund ist trotzdem etwas anderes. Gesund ist auch nicht total erkältet zu Combi zu gehen, aber da war ich nun einmal.

Was er vor sich auf dem Band hatte, weiß ich allerdings nicht, was mich wundert. Viel war es nicht. Ein Handeinkauf. Eine Einkaufstasche hatte er auch nicht dabei. Auch keinen Rucksack oder ähnliches. Stand einfach da. Erst hinter mir, dann vor mir, dann wieder hinter mir. Ans Laufband gelehnt. Unsympathisch.

Die meisten Alltagshandlungen führen wir unreflektiert durch, denken gar nicht Großartig darüber nach, was wir machen und was mögliche Implikationen sind. Würden wir es immer tun, würden wir vor lauter Denkerei und Abwägerei gar nichts mehr fertig bekommen. Vor lauter „was wäre wenn“ würden wir nie über das „wenn“ hinwegkommen, denn auch davon gibt es so viele. Der Schüler, der im Unterricht stört, stört auch nicht immer, weil er sich bewusst entschieden hat, den Unterrichtsprozess zu torpedieren oder den sorgfältig vorbereiteten Unterricht zu objektiv nicht immer spannenden Themen wohlwollend zu ignorieren. Es werden keine komplexen Wenn-dann-Gleichungen aufgestellt, wenn kurz mit dem Nachbarn geschnackt oder beim Bezahlvorgang das Portmonee an der Kasse abgelegt wird. Es wird nicht großartig reflektiert, ob es sinnvoll ist, beim Bezahlen zunächst das Geld aus der Geldbörse zu nehmen, der Kassiererin zu reichen, die Geldbörse kurz abzulegen, die Einkäufe in den Rucksack zu stopfen und dann Wechselgeld und Geldbörse zu vereinen. Man macht es einfach. Oder auch nicht, denn bei Rewe in den Schlosshöfen meinte auch schon einmal ein freundlicher Mitmensch zu mir, dass es ja sehr vertrauensvoll wäre, das Portmonee dort für einige Sekunden liegen zu lassen. Ich verstand ihn nicht, denn was sollte schon passieren? Sollte etwa jemand an der Kasse ein anderes Portmonee einstecken, wohl wissend, dass einem eine bestimmt stets aufmerksame Kassiererin genau vor der Nase sitzt und der andere Kunde sehr wohl wissen müsste, dass das eigene Portmonee dort noch liegt?

Der aufmerksam das geschriebene Wort reflektierende Leser ahnt bereits, wohin der Hase läuft. Er – oder natürlich auch sie, denn Frauen lesen, wie ich seit meiner Examensarbeit im Referendariat auch empirisch selber nachgewiesen habe, mehr, lieber und ausdauernder – ahnt bereits, dass diese kleine Alltagsepisode kaum mehr ein gutes Ende nehmen kann.

Sie weiß bereits, dass irgendwie passierte, was nicht passieren kann. Er kann sich bereits vorstellen, dass das Wechselgeld der Kassierin von mir mit ausgestreckter Hand in Empfang genommen wurde, die Einkäufe noch nicht vollständig verpackt waren, der etwas kleinere Typ mit den wenigeren Haaren und noch weniger Einkäufen schnell die seinen bezahlte und ruhigen Schrittes die Kasse verließ. Sie kann sich bereits vorstellen, dass es innerlich jenen Augenblick der perplexen Irritation gab, als ich für das Wechselgeld nicht sofort das Portmonee zur Hand hatte oder offen ausliegen sah, dann aber dachte, dass es bestimmt in meiner Jacken-, Hosen- oder Pullovertasche ist. Er sieht vor seinem geistigen Auge, wie ich verwirrt meine Taschen absuche und einen Sekundenbruchteil lang glaube, dass ich das Portmonee bestimmt zuerst in den Rucksack gelegt habe, wo es nun unter den Einkäufen liegt, wobei es für diesen Gedankengang gar keine Rolle spielt, dass ich so etwas nie mache, da es vollends unlogisch ist. Sie kann sich ausmalen, wie ich, nachdem die eigenen Taschen abgeklopft sind, wieder anfange, den Rucksack auszupacken, erst langsam, dann immer schneller.

Und er? Der kurzhaarige Typ mit dem geröteten Nacken und dem Kleineinkauf, der die Wirtschaft auch nicht in Schwung bringt? Er spürt vielleicht, wie ich ihm einen flüchtigen Blick nachwerfe, als er in Richtung Ausgang geht, weder Einkaufstasche noch Rucksack bei sich tragend. Er geht ruhig. Normales Tempo. Bloß nicht auffallen. Aber da nicht sein kann, was nicht sein kann, gar sein darf, reagiere ich nicht. Eile ihm nicht nach. Rufe nicht, wofür ich auch viel zu heiser wäre, irgendetwas wie „Stehenbleiben“, „Polizei“, „Diebstahl“ oder sonst etwas, was man im Fernsehen immer sieht. 

Der Moment verstreicht. Er geht. Ich suche. Bin irritiert. Stelle konsterniert fest, dass das, was nicht sein kann, genau das ist, was ist. Ein Fall für Cenk Batu; der hat ja bald Zeit. 

Ich bin müde. Schwach. Heiser. Wollte eigentlich nur etwas Transpulmin Balsam aus der Apotheke und etwas Gemüse von Koopmann holen. Gutes, horrend überteuertes Biozeugs. Vielleicht auch von italienischen Bioschiebern mit kurzen Haaren und geröteten Nacken nur als solches deklariertes Pestizidgestrüpp. Was weiß man schon, außer, dass die braunen Champignons zehn Euro das Kilo kosten und dies als Angebot deklariert wird? Käse fehlte auch, aber der abgepackte Biokäse bei Koopmann sah nicht gut aus und an die Käsetheke wollte ich nicht, da man dort reden muss und jeder Sprachakt schmerzt. Das sind die Stellräder des Alltags, die unscheinbaren Weichen, die den Fortlauf der Dinge bestimmen. Unappetitlich abgepackter Käse und Halsschmerzen. Für manche haben solche Banalitäten sicherlich schon einmal über Leben und Tod entschieden.

Ich wollte wieder nach Hause. Inhalieren. Mich ausruhen. Mir nicht, so wie es sich gehört, den ersten anständigen Sonnenbrand des jungen Frühlings holen, so wie ich es heute normalerweise nach der Schule auf dem Rennrad getan hätte. Combi war allerdings nebenan. Der Käse dort passabel. Natürlich hat Koopmann auch guten Käse, aber Käse kaufe ich immer bei Combi, wo man nicht zwangsläufig reden muss. Das ist prinzipiell unlogisch, aber es ist so. Nicht immer wird alles, was man macht, reflektiert. Nicht immer wird die Überlegung angestellt, dass ich, wenn ich zu Combi gehe, dort erleichtert werden könnte. Auf der Straße überfahren werden könnte. Eigentlich direkt mit dem Transpulmin hätte nach Hause gehen sollte. Andererseits - vielleicht wäre ich dann überfahren worden und sollte mich jetzt glücklich schätzen, nur beklaut worden zu sein? 

Combi kann oder will nach dem Eintritt des Bösen in meinem Leben auch nicht helfen. Die Kassen werden nicht mit Kameras überwacht, die Bilder aus dem Markt, mit denen der Täter natürlich eindeutig identifizierbar wäre, werden nicht zugänglich gemacht. Außerdem krächze ich auch wie ein Halbtoter; jede Unterhaltung ist eine Anstrengung, auf eine Diskussion habe ich keine Lust. Eine Kassiererin sucht noch einmal mit mir rings um die Kasse. Nicht, dass das in irgendeiner Weise sinnvoll wäre, aber die Geste zählt. Vielleicht ist die Geldbörse ja auch nur runtergefallen. "Meinen Rucksack noch mal gut durchsuchen?" - als nächtes müsste ich die Nähte aufreißen, womit der Tag noch teurer würde. Resignation. 

Werde ich mein Portmonee jemals wiedersehen? Wird er nur das Geld herausreißen und den Rest achtlos in ein Gebüsch werfen? Wird jemand dieses Portmonee finden und es zum Fundbüro bringen, wo ich vor Jahren schon einmal meinen gesamten Schlüsselbund wiederbekam, nachdem er mir beim Radfahren aus der Jacke gefallen war? Wird jemand das Portmonee finden und in meinen Briefkasten schmeißen? Werde ich bis zum Herbst warten müssen, wenn man es sieht? Wird er von dem Geld einkaufen gehen, etwas übelst Verdorbenes erwerben und wenigstens mit einer Nahrungsmittelvergiftung bestraft? Wird er von dem Geld einkaufen gehen, sich ordentlich Suff kaufen und besoffen mit dem vielleicht auch geklauten Fahrrad in den Graben rauschen, sich sämtliche Knochen brechen und von einem Beistehenden liegen gelassen? Wird ihn sein schlechtes Gewissen einholen und das Portmonee heute Nacht um zwei durch meinen Briefkasten plumpsen?

Das Portmonee war ziemlich im Acker. Ich brauchte sowieso ein Neues. Seit längerem schon. Der Zeitpunkt scheint gekommen. Die Kreditkarte ist gesperrt, die EC-Karte auch. Beides ging fix. Für meine Stimme entschuldigte ich mich am Telefon. Die Dame von der Postbank war auch erkältet - das wäre ja jetzt die Jahreszeit. Die Bahn stellt mir für 15€ eine neue Bahncard aus. Kredit- und EC-Karte sind augenscheinlich kostenlos. Hier decken sich Unternehmensimage und tatsächliche Erfahrung gleich dreifach, auch wenn die Postbank jetzt der Deutschen Bank gehört. Mein neuer Ausweis im Fitnessstudio wird 10€ kosten, aber der alte war eh verknickt, was jedoch prinzipiell egal ist. Meine Versichertenkarte lag aus irgendwelchen Gründen auf meinem Schreibtisch, mein Jugendherbergsausweis auch. Das Portmonneau war voller Quittungen und Kassenbons, die ich nie wegschmeiße, so dass er jetzt auch zu Hause nachvollziehen kann, was bei mir immer auf dem Kassenband liegt. Bei Koopmann. Bei Combi. Bei Aldi und bei Netto. Er wird sehen, dass ich oft um 6:29 im Olantis bin. Er wird sehen, dass mein Rennrad gerade für unverschämlte 350€ repariert wurde. Er wird zwei alte Fotos meiner Freundin sehen – zwei Fotos, die im Gegensatz zur Kreditarte und Bahncard nicht ersetzt werden können, die nicht so egal sind wie diese Scheine, von der die EZB eh nach Belieben neue druckt.

Wenn morgen früh um zwei nichts in meinem Briefkasten klappert, meinetwegen auch ohne jene 200€, die im Portmonee waren, dann wünsche ich ihm von allergrößten Herzen, dass ihn niemand aus dem verfluchten Graben holt, in dem er mit gebrochenen Knochen in seinem eigenen Erbrochenen liegt, da er dachte, die Nahrungsmittelvergiftung noch wegtrinken zu können. Ich wünsche ihm, dass sich jemand zu ihm hinabbückt, das Rad aus dem Graben zieht und hinwegfährt.

„Gelegenheit macht Diebe“ ist eine jener schlauen Weißheiten, die wir von Kleinauf eingetrichtert bekommen, um uns unseren Weg durch die Welt zu bahnen, ohne von dieser ständig auf die Hörner genommen zu werden. Der imanente Fehler liegt jedoch in der Kausalverknüpfung, denn es ist nicht die Gelegenheit, die den Dieb macht, sondern der Dieb, der die Gelegenheit nutzt. Und wer diese erst einmal nutzt, morgens, an einem eigentlich viel zu warmen Märztag, mit einem angefieberten, stimmlosen Opfer in einer viel zu warmen Jacke, nutzt sie immer wieder.

Die Welt, in der wir leben, wäre besser, wenn es manche nicht gäbe.

Wenn im Graben, in den er fällt, nur etwas Wasser steht, kann es bereits genügen, um zu ertrinken.

Das wäre tragisch.

 

 

Bernt Pölling-Vocke - berntpv@gmx.de

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